9. Februar 2022

Fragen aus der Praxis rund ums Beurteilen

Evelyne Borer, Primar- und Sekundarlehrerin, Erziehungswissenschafterin, Dozentin Weiterbildung zum Thema Beurteilen

Nachfolgend erhalten Sie vertiefte Antworten auf die Fragen 1-6 rund ums Thema Beurteilen.

1. «Wie mache ich aus einer formativen Beurteilung eine Note?»

Wer mehr wissen möchte zur Frage 1:

Beim formativen Beurteilen wird den SuS aufgezeigt, wie sie die Lücken zu den Lernzielen schliessen können. Da aber formative Beurteilungen kleine Meilensteine auf dem Weg zur summativen Beurteilung darstellen, ist die Frage, wie aus einer formativen Beurteilung eine Note wird, durchaus berechtigt!

Praxisbeispiel 1: Die Qualität des Beobachtungsheftes zu den naturwissenschaftlichen Versuchen kann während der Unterrichtseinheit von den SuS anhand eines Kriterienrasters selbst eingeschätzt werden. Die Lehrperson (LP) beurteilt das Heft am Ende des Lernprozesses (summativ) mit dem gleichen Raster und setzt eine Note.

Praxisbeispiel 2: Bevor die SuS ihren Bewerbungsbrief schreiben, werden sie mit den dafür vorgesehenen Kriterien des Bewertungsrasters vertraut gemacht. Dies passiert, indem sie den Grad der Kriterienerfüllung anhand anonymisierter Bewerbungsbriefe einschätzen und diskutieren. Dabei kann im Sinne der Ko-Konstruktion der Diskurs in der Klasse auch zur Überarbeitung der Kriterien genutzt werden. Sind später die Briefe geschrieben, soll jede Schülerin und jeder Schüler ein schriftliches Peer-Feedback erhalten. Dafür gibt die LP den SuS vier Fragen an die Hand, welche Sie von den Kriterien des Bewertungsrasters abgeleitet hat. Nach einer anschliessenden Überarbeitungsphase wird das Motivationsschreiben der LP zur Benotung eingereicht.

Problematisch ist im schulischen Kontext jedoch, dass für SuS die Unterscheidung zwischen formativem und summativem Kontext häufig unklar ist. Auch wenn bei kompetenzorientierten Unterrichtssettings die Unterscheidung von Lern- und Leistungssituationen nicht immer eindeutig gezogen werden kann (Luthiger, 2014, S. 331f), sollte formatives Feedback nicht mit summativer Beurteilung gekoppelt werden (Fraefel, 2020, S. 203f), weil ersteres eine Leistungsverbesserung einfordert, während die summative Beurteilung die Leistung abschliessend beurteilt und deshalb mit dem Empfinden von Leistungsdruck einhergehen kann.

Evelyne Borer & Maike Fischer, Lehrperson SEK I und Kursleiterin zum Thema Beurteilen

2. «Wo finde ich die Zeit für die aufwändige formative Beurteilung?» 

Wer mehr wissen möchte zur Frage 2:

Fakt ist: Kompetenzorientierte Beurteilung ist komplex und aufwändig. Deshalb müssen LP lernen, ökonomisch zu denken. Sie dürfen aber gleichzeitig nicht dem Minimalismus verfallen und müssen das Ziel – der Fortschritt der SuS – immer vor Augen halten. Warum nicht das Fünf-Finger-Feedback (Lötscher et al., 2021, S. 65) für das Selbst- und Peer-Feedback im Unterricht etablieren?

Fünf-Finger-Feedback

Daumen

=

Das ist mir gelungen.

=

Das ist mir gelungen.

Das ist mir gelungen.

Zeigefinger

=

Darauf will ich achten.

=

Darauf will ich achten.

Darauf will ich achten.

Mittelfinger

=

Das passt mir (momentan noch) nicht.

=

Das passt mir (momentan noch) nicht.

Das passt mir (momentan noch) nicht.

Ringfinger

=

Das ist mir wichtig (geworden).

=

Das ist mir wichtig (geworden).

Das ist mir wichtig (geworden).

Kleiner Finger

=

Das kommt noch zu kurz.

=

Das kommt noch zu kurz.

Das kommt noch zu kurz.

Indem ein kompetenzorientierter Unterricht geplant und angeboten wird, – also der Unterricht von den Zielen her konzipiert wird, – kann möglicherweise Zeit gespart werden. Ist von Beginn an ein Bewusstsein darüber vorhanden, was die SuS am Ende können sollen, wird auf weniger Inhalte als bisher fokussiert und mehr Zeit zum Vertiefen gefunden. Mit einfachen Diagnosetechniken (z. B. den Classroom Assessment Techniques (CATs) von Angelo und Cross (1993)), wird der Lernstand erhoben – unsere Grundlage fürs Feedback. Diagnostizieren fordert aber auch eine Anpassung des Unterrichtes, was wiederum mit Aufwand verbunden ist.

Hilfreich kann schliesslich sein, das Zeitproblem kreativ zu betrachten. Dann können kompetenzorientierte Ziele auch ein Weg sein, Ressourcen einzusparen. Wenn im Französischunterricht den SuS die komplexe Aufgabe gestellt wird, zu zweit einen Dialog über ihre Hobbys zu führen, warum sollen die SuS diese Kompetenz nicht auch in der Leistungssituation zeigen können? Oder warum wird im Fach «Natur, Mensch, Gesellschaft» nicht angekündigt: «Aus diesen 20 Aufgaben kommen 7 an der Prüfung vor.» Dann ist die Prüfung schon geschrieben und die Lösungen sind auch schon parat.

Evelyne Borer & Martina Köhli, Primarlehrerin Zyklus 1 und Kursleiterin zum Thema Beurteilen

3. «Wie kann ich mit dem Spannungsfeld zwischen individueller Förderung und Benoten umgehen? Ich erlebe immer wieder, wie Noten sich negativ auf die Motivation schwächerer SuS auswirken.»

Wer mehr wissen möchte zur Frage 3:

Bartnizky (1991) stellt dem von Auslese geprägten gesellschaftlichen Leistungsbegriff eine pädagogische Sicht gegenüber. Damit auch schwächere SuS eine Anerkennung erhalten und sich kompetent erleben, soll die LP vielfältige Leistungen wahrnehmen, wie z. B.: den anderen zuhören, mit anderen kooperieren und das eigene Lernen reflektieren. Daneben wirkt sich eine hohe Leistungserwartung günstig auf die Anstrengungsbereitschaft aus. Deshalb sollen Anforderungen nicht als Hürden, sondern als Zielperspektiven betrachtet und die einzelnen Schritte auf dem Lernweg gewürdigt werden. Diese Würdigung kann wiederum von der LP als Ausgangspunkt genutzt werden, ihren Unterricht anzupassen (dies kann auch in einem ko-konstruktiven Prozess mit den SuS zusammen erreicht werden) (Lötscher et al., 2021, S. 120).

Die Frage nach der Motivation öffnet ein zusätzliches Themenfeld des pädagogischen Handelns. Da die extrinsische Motivation im Gegensatz zur intrinsischen einfacher «von aussen» gefördert werden kann, fokussiert die Pädagogik auf die extrinsische Motivation. LP können die extrinsische Motivation ihrer SuS unterstützen, indem sie vorleben, dass ihnen die Bildung ihrer SuS wichtig ist. Die Motivation der SuS wird auch gestärkt, wenn es gelingt, den Sinn von Lernzielen aufzuzeigen oder wenn den SuS Wahlmöglichkeiten an die Hand geben werden und so Selbstbestimmung erlebbar gemacht wird. Auch kooperatives Lernen ist motivationsfördernd. Schliesslich muss den SuS ein Gefühl der Kontrolle über ihren Lernerfolg ermöglicht werden (Deci & Ryan, 1993; Pekrun, 2006). Dafür werden die SuS mit den Kriterien vertraut gemacht und ihnen werden Strategien fürs selbstständige Arbeiten aufgezeigt.

Evelyne Borer & David Stephan, Schulleiter und Kursleiter zum Thema Beurteilen

4. «Wie tief darf ich eine Note setzen?»

Wer mehr wissen möchte zur Frage 4:

Werden in einer Klasse mehrheitlich schlechte Noten vergeben, verlangt dies eine kritische Reflexion des eigenen Unterrichtes, schliesslich sollten die Grundanforderungen für ALLE erreichbar sein und bei Erfüllung mit einer 4 bewertet werden. Vielleicht kommen Sie zum Schluss, dass Sie mit der Lernkontrolle andere als die vorgegebenen Lernziele überprüft haben oder dass im Unterricht zu wenig Vertiefungsgelegenheiten geboten wurden. Wie wäre es, wenn Sie dies den SuS so mitteilen und eine Prüfungswiederholung anbieten (Fraefel, 2020, S. 204)? Schreiben SuS jedoch wiederholt ungenügende Noten, braucht es eine Intervention. Ein erstes Gespräch mit dem Kind, dann mit den Eltern. Schaffen Sie dabei ein gemeinsames Problemverständnis. Stellen Sie Fragen und beschreiben Sie die Ist-Situation mit konkreten Beispielen und Beobachtungen, bevor Lösungsvorschläge eingebracht und abgewogen werden, um schliesslich spezifische, messbare, attraktive und terminierte Ziele zu setzen (Gartmeier et al., 2011, S. 417f).

Evelyne Borer & Nicole Schumacher, Primarlehrerin Zyklus 2, Erziehungswissenschafterin und Kursleiterin zum Thema Beurteilen

5. «Wie wende ich das Selbst- und Fremdbeurteilungsdokument in meiner Beurteilungspraxis an?»

Wer mehr wissen möchte zur Frage 5:

Wie vom DVS (2019, S. 14) verlangt, sollten in jeder Lektion und in den Beurteilungsgesprächen nicht nur fachliche Leistungen im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sondern auch wichtige überfachliche Lebenskompetenzen wie Teamfähigkeit, Ordnung, Ausdauer, kritisches Denken, Problemlösefähigkeit, Empathie, Konzentration und Umgang mit Emotionen und Stress (Fraefel, 2020, S. 184). Nutzen wir diesen Bildungsauftrag nicht, vergeben wir eine einzigartige pädagogische Chance. Die Liste des Fremdbeurteilungsdokuments (FD) kann uns helfen, täglich ein überfachliches Ziel zu setzen. Der Schulalltag zeigt uns, was in der Klasse gerade vordringlich ist. Überfachliche Ziele in Anlehnung an das FD könnten z. B. so lauten: «Heute findet jede Gruppe einen Konsens bei der Themenfindung. Dafür wägt ihr Vor- und Nachteile in einer wertschätzenden Sprache ab und ihr könnt auch eigene Positionen zurückstellen, wenn es um die Konsensfindung geht.» Oder: «Mit eurer Lernpartnerin, eurem Lernpartner könnt ihr euer bisheriges Lernen in der Matheumgebung beschreiben und ihr könnt euch die nächsten Arbeitsschritte setzen, die nötig sind, um die Lernziele gut zu erreichen.» Auch die Klasse kann das überfachliche Ziel mitbestimmen und selbst das Lernen der LP darf integriert sein: «Heute arbeiten wir konzentriert und diszipliniert und hören pünktlich auf.»

Da ab dem 2. Zyklus 8 überfachliche Kompetenzen im Zeugnis beurteilt werden, sollte das Arbeits- und Sozialverhalten nicht auch noch in die Fachnoten einfliessen (Lötscher et al., 2021, S. 113). Der Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen ist aber Grundlage des Beurteilungsgesprächs. Einschätzungen auf dem Bogen müssen mit konkreten Beispielen und Beobachtungen fassbar gemacht werden. Unabhängig davon, ob Sie Ihre Beobachtungen aufschreiben oder nicht, ist es anspruchsvoll, das Wahrgenommene genau zu beschreiben. Differenzierte Beschreibungen verzichten zunächst auf Beurteilungen. Verben und Adverbien können hierbei helfen. Während Verben Verhaltensweisen beschreiben, geben Adverbien den Formulierungen eine qualitative Nuance: «Beim Umwandeln von Masseinheiten wählt Sandro die notwendigen Gewichte entschlossen aus und legt sie auf die Waage. Er erkennt unmittelbar, dass seine Berechnung stimmt.» Mit Adjektiven kann in einem zweiten Schritt im Vergleich zu den Zielen kategorisiert werden (Ulber & Imhof, 2014, S. 39f): «Sandros mathematische Fähigkeit beim Umwandeln von Massen ist stufengemäss›».

Evelyne Borer & Aline Graf, Primarlehrerin Zyklus 2 und Kursleiterin zum Thema Beurteilen

6 «Welche Absprachen braucht es im Team, um gerecht zu beurteilen?»

Wer mehr wissen möchte zur Frage 6:

Wenn eine klassenübergreifende Beurteilungspraxis gelebt wird, unterscheiden sich die Beurteilungen zwischen den Klassen weniger – so wird Beurteilung gerechter. Dies bedingt jedoch Absprachen unter den LP und eine gemeinsame Unterrichtsplanung (Lötscher et al., 2021, S. 393). Dabei sollten die Beurteilungskriterien trotz einfacherer Anwendbarkeit nicht zu allgemein gehalten werden. Denn die Gefahr besteht, dass dann v. a. die Oberflächenstruktur des Lernens (z. B. die Rechtschreibung) anstelle der Tiefenstruktur (die inhaltliche Auseinandersetzung) abgebildet wird (Sacher, 2009, S. 48).

Die Forderung nach Chancengerechtigkeit wirft die Frage auf, ob die Zugangsbedingungen zur Bildung für alle SuS – unabhängig ihrer sozialen Schicht – gleich sind. Studien (Forghani-Arani et al., 2015; Sprietsma, 2013) deuten darauf hin, dass sich Lehrpersonenteams im Sinne der Chancengerechtigkeit neben gemeinsamer Unterrichtsplanung und -reflexion vor allem auch damit beschäftigen sollten, welche Haltungen und Werte sie leben wollen. Denn dieses «Wie-denken-wir?» spiegelt sich in ihren Einstellungen gegenüber den SuS und ihren schulbahnrelevanten Urteilen. Eine Kultur hoher Leistungserwartungen mit einer Haltung und Praxis, die den intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen das Potenzial zur Weiterentwicklung zuspricht (Growth Mindset (Hattie & Clarke, 2019, S. 13)), ist dabei lernförderlich (Lötscher et al., 2021, S. 94).

Evelyne Borer & Martin Meyer, Lehrperson SEK I, Schulleiter und Kursleiter zum Thema Beurteilen

Quellenverzeichnis

Angelo, T., & Cross, K. P. (1993). Classroom assessment techniques: A handbook for college teachers (2nd ed.). Jossey-Bass.

Bartnizky, H. (1991). Leistung und Leistungsbeurteilung. In D. Haarmann (Hrsg.), Handbuch Grundschule, Bd. 1 ([Versch. Aufl.], S. 114–128). Beltz Verlag.

Berner, H., Isler, R., & Weidinger, W. (2018). Einfach gut unterrichten (2. Aufl.). hep Verlag.

Bildungs- und Kulturdepartement Dienststelle Volksschulbildung Luzern (DVS) (Hrsg.). (2019). Beurteilung der Lernenden. Umsetzungshilfe für Lehrpersonen und Schulleitungen. https://volksschulbildung.lu.ch/-/media/Volksschulbildung/Dokumente/unterricht_organisation/beurteilen/umsetzungshilfe_beurteilung_lernende.pdf?la=de-CH

Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik, 39(2), 223–238.

Fraefel, U. (2020). Praktiken professioneller Lehrpersonen. Mit dem Aufbau zentraler Praktiken zu erfolgreichem Handeln im Unterricht (1. Aufl.). hep Verlag. https://www.hep-verlag.ch/praktiken

Gartmeier, M., Bauer, J., Fischer, M. R., Karsten, G., & Prenzel, M. (2011). Modellierung und Assessment professioneller Gesprächsführungskompetenz von Lehrpersonen im Lehrer-Elterngespräch. In O. Zlatkin-Troitschanskaia (Hrsg.), Stationen Empirischer Bildungsforschung: Traditionslinien und Perspektiven (S. 412–424). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94025-0_29

Hattie, J., & Clarke, S. (2019). Visible learning: Feedback. Routledge, Taylor & Francis Group.

Lötscher, H., Naas, M., & Roos, M. (2021). Kompetenzorientiert beurteilen (1. Auflage). hep Verlag.

Luthiger, H. (2014). Differenz von Lern- und Leistungssituationen: Eine explorative Studie zu ihrer theoretischen Grundlegung und empirischen Überprüfung. Waxmann Verlag.

Pekrun, R. (2006). The Control-Value Theory of Achievement Emotions: Assumptions, Corollaries, and Implications for Educational Research and Practice. Educational Psychology Review, 18(4), 315–341.

Sacher, W. (2009). Leistungen entwickeln, überprüfen und beurteilen: Bewährte und neue Wege für die Primar- und Sekundarstufe (5. Aufl.). Julius Klinkhardt.

Zeiger, A. (2021). How good is my English? – «Sprechen» kompetenzorientiert beurteilen. In H. Lötscher, M. Naas, & M. Roos (Hrsg.), Kompetenzorientiert Beurteilen (S. 209–233). hep Verlag.


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