«Es ist eine unglaubliche Leistung, die Lehrpersonen Tag für Tag vollbringen!»

Die Volksschule in der Entwicklung eines konstruktiven Umgangs mit herausforderndem Verhalten zu unterstützen: Dies ist ein zentrales Anliegen, für das sich die 4 Interviewten in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern einsetzen. Denn die Schule der Zukunft solle eine starke Volksschule bleiben – nicht zuletzt wegen ihrer Integrationsfunktion, die sie in der Gesellschaft wahrnimmt. Erfahren Sie nachfolgend, wie die 4 Fachpersonen die Situation rund um unser Fokusthema «Verhalten» an den Luzerner Schulen wahrnehmen und einschätzen – und wo sie bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen ansetzen würden.

Im Gespräch mit (im Bild von links nach rechts):

  • Stefan Küng (SK); Koordinator Heilpädagogik und Dozent, PH Luzern
  • Marco Racheter (MR); Schulevaluator und Leiter Projekt «Verhalten», DVS Luzern
  • Brigitte Stutz (BS); Leiterin Integrative Sonderschulung, Mariazell Sursee
  • Prof. Dr. Alois Buholzer (AB); Leiter des Instituts für Diversität und inklusive Bildung (IDB) und Dozent, PH Luzern

Woran denken Sie spontan, wenn Sie das Wort «Verhalten» hören?

Stefan Küng: Aus beruflichen Gründen übertrage ich den Begriff sofort auf den schulischen Kontext. Ich höre «Verhalten» und sehe eine der grossen Herausforderungen im Bildungsbereich.

Brigitte Stutz: Menschen verhalten sich – und dieses Verhalten ist von aussen wahrnehmbar.

Marco Racheter: Das ging auch mir durch den Kopf. Haben Sie einmal versucht, sich nicht zu verhalten? So wie man nicht nicht kommunizieren kann, kann man sich auch nicht nicht verhalten. Verhalten ist immer ein Zusammenspiel zwischen einem Individuum und der Situation, in der es sich bewegt. Und grundsätzlich ist es einfach ein sehr spannendes Thema...

Alois Buholzer: Verhalten ist sehr divers. Ich habe heute Morgen bei einem Schulbesuch an einer Sonderschule beobachtet, wie unterschiedlich sich die Kinder und Jugendlichen – aber auch die Lehrpersonen – verhalten haben. Spannend wird es vor allem dann, wenn ich versuche zu verstehen, was hinter einem Verhalten steht.

Über gutes Verhalten wird eigentlich kaum gesprochen … warum?

SK: Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Tatsächlich ist es eine Übungssache, Positives wahrzunehmen. Wir richten den Fokus nämlich häufig eher auf einzelne negative Ereignisse.

Ich ziehe hier gerne das Bild eines schwarzen Punktes auf einem weissen Blatt heran: Wir müssen lernen, verstärkt das weisse Blatt zu fokussieren. Hierfür ist Haltungsarbeit gefragt – aber auch Technik.

BS: Das Positive sichtbar zu machen, gehört auch zu unseren Aufgaben als Schulcoaches. Nachdem wir dabei geholfen haben, zu eruieren, was am meisten belastet, spüren wir Situationen auf, die gut funktionieren.

MR: Stimmt: In unserer Vorstellung bleibt oft das Negative hängen. In diesem Zusammenhang kommt auch der Selbstregulation zur Erhaltung der eigenen Gesundheit eine grosse Bedeutung zu.

Wie nehmen Sie die Situation rund um unser diesjähriges Fokusthema «Verhalten» an den Schulen im Kanton Luzern wahr? Was beschäftigt Schulleitende und Lehrpersonen aktuell besonders?

SK: «Verhalten» ist ein Thema, das aktuell viele Lehrpersonen stark bewegt. Das stelle ich auch in unseren Seminarräumen fest: Der Bedarf an Fallbesprechungen ist sowohl bei angehenden als auch bei erfahrenen Lehrpersonen sehr gross. Besonders beschäftigt in diesem Zusammenhang auch die Elternarbeit.

BS: Die Belastung der Lehrpersonen ist aktuell gross. Wir erleben in diesem Schuljahr viele Schulleitende mit grossen personellen Herausforderungen, die durch die Auswirkungen des Lehrpersonenmangels bedingt werden. Die Heterogenität der Klassen nimmt zu und zeigt sich im integrativen Schulsystem noch stärker. Die Teams sind gefordert und grosses Fachwissen ist gefragt. Durch die speziellen Massnahmen, die einzelne Kinder ihren Bedürfnissen entsprechend erhalten, sind viele Personen im Schulzimmer anwesend. Die Lehrpersonen übernehmen Aufgaben der Personalführung, für die sie noch zu wenig Erfahrung haben. Gleichzeitig stelle ich fest: Je offener, je projektfreudiger und je unabhängiger von Stundenplänen die Unterrichtsgestaltung ist, desto besser gelingt der Unterricht von besonders heterogenen Gruppen.

SK: Diese Herausforderungen im Personalbereich sind auch meiner Ansicht nach ein akutes Thema: Eine Schulleiterin erzählte mir beispielsweise im Herbst, dass an ihrer Schule mehrere Klassen stark mit herausforderndem Verhalten belastet seien. In einer dieser Klassen seien die Herausforderungen besonders gross. Wenige Wochen später wurde die Klassenlehrperson aufgrund der Belastung, die sich für sie mitunter daraus ergab, krankgeschrieben. Die Schulleiterin musste daraufhin eine stellvertretende Lehrperson suchen. Aufgrund des vorherrschenden Fachkräftemangels ist das Risiko hoch, dass genau solch belastete Klassen wechselnde und unqualifizierte Lehrkräfte erhalten. Das sind aktuelle Praxisdynamiken, die schwierig aufzufangen sind.

AB: Auch ich nehme wahr, dass manche Klassen sehr belastet sind – insbesondere, wenn viele «Baustellen» bestehen und die Schulen nicht über die nötigen Ressourcen für deren Behebung verfügen. Lehrpersonen und Schulleitungen kommen so an ihre Grenzen. Diese Problematik müssen wir sehr ernst nehmen. Ich sehe aber auch Schulen, die mit konkreten Projekten Gegensteuer geben: Es sind Schulen, die nach Möglichkeiten dafür suchen, wie sie mit Kindern in einem Verhaltensspektrum, das für Lehrpersonen selbst nicht mehr bewältigbar ist, umgehen können. Das sind für mich positive Ansatzpunkte für projektbasierte Entwicklungen. Dafür braucht es aber sowohl eine initiative Schulleitung als auch finanzielle Unterstützung durch die Schulbehörde.

Herr Racheter, Sie sehen als Schulevaluator auf besondere Art und Weise in verschiedene Schulen hinein. Was beobachten Sie dabei?

MR: Ich erlebe oftmals fröhliche, aufgeschlossene Kinder, die gut miteinander auskommen und über Strategien zur Konfliktbewältigung verfügen. Hingegen sehe ich dabei selten, dass ein Kind in diesem Setting nicht tragbar wäre. Ich erfahre jedoch immer wieder im Gespräch mit Lehrpersonen, dass sich das eine oder andere Kind auch mal anders verhalten kann, als es sich während der Evaluation gezeigt hat. Insbesondere Schulleitende erzählen mir auch, welchen Aufwand sie betreiben, um mit Schülerinnen und Schülern Gespräche zu führen, Unterstützungssysteme für Lehrpersonen aufzubauen und Eltern ins Boot zu holen, damit zumindest auf Erwachsenenebene ein Bündnis entstehen kann, das die Lernenden wieder besser trägt.

Wie erklären Sie sich die Entwicklung der angesprochenen Herausforderungen an unseren Schulen?

AB: Unsere Gesellschaft heute ist nicht mehr so wie vor 30 oder 40 Jahren. Ihre Zusammensetzung hat sich verändert: Sie ist diverser und vielfältiger geworden – und mit ihr auch die Kinder, die Jugendlichen und die Erwachsenen. Und was wir gesamtgesellschaftlich in den Städten, im Verkehr und in den Vereinen beobachten, das zeigt sich einfach auch in der Schule: Die gesamtgesellschaftliche Lage spiegelt sich also im Mikrokosmos Schule wider. Und damit auch in der Zusammensetzung der Schulklassen, in den Interaktionen und im Umgang miteinander – bis hin zum konkreten Unterrichtssetting. So gesehen ist es primär kein schulgemachtes Problem. Schwierig wird es allerdings dann, wenn die Schule dazu beiträgt, das Problem noch zu verschärfen. Wie gesagt: Meine Diagnose ist, dass die Schule ein Mikrokosmos des Ganzen ist. Und damit haben wir uns auseinanderzusetzen.

BS: Ich teile diese Ansicht: Die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich in der Schule. Auch eine Auswirkung davon: In den letzten 3 Jahren beobachten wir zunehmend junge Kinder mit eskalierenden Verhaltensweisen – Kinder, die mit den Anforderungen des Kindergartens noch nicht zurechtkommen. Sie wenden in der Überforderung Strategien an, die sich in aggressivem Verhalten, Rückzug oder Verweigerung zeigen. Daher setzten wir uns in unserer Arbeit auch damit auseinander, wie wir Kindern mit solch hoher Anspannung begegnen können.

MR: Man könnte die eben angesprochene Thematik der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen fast unendlich erweitern … Da sind unterschiedliche Sozialisationserfahrungen und unterschiedliche Wertesysteme, die verschiedene Familien in die Schule hineinbringen. Auch der gestiegene Erwartungsdruck, der auf den Kindern lastet, kann eine Rolle spielen. Aber welcher Einfluss nun genau was bewirkt, lässt sich schliesslich nicht wirklich eruieren. Es zeigt sich einfach eine grosse Diversität. Und letzten Endes – glaube ich – haben wir auf diese Diversität noch nicht die passenden Antworten gefunden.

Sehen Sie eine weitere Ursache, Herr Küng?

SK: Auch der Einfluss der Medien ist nicht zu unterschätzen. Offensichtlich wirkt sich exzessiver Medienkonsum negativ auf die sozio-emotionale Entwicklung und damit auf das Verhalten von Kindern aus.

Die Schule hatte schon immer auch die Aufgabe der Sozialisation. Früher hiess es lapidar: «Besorgt uns Arbeitskräfte für die Wirtschaft.» Dieses Ziel hat sich verändert.

Marco Racheter

Gesellschaftliche Veränderungen spielen in die Schule hinein. Wo sehen Sie im Gegenzug dazu den Einfluss der Schule oder des Schulsystems auf gesellschaftliche Entwicklungen?

AB: Auf diese Frage möchte ich einfach mit Helmut Fend antworten: Ja, die Schule hat eine «Integrationsfunktion». In unserer Volksschule kommen Kinder aus unterschiedlichen Familien mit verschiedenen Herkünften und Erfahrungen zusammen. Das ist grundsätzlich anders als z. B. in den USA oder in England, wo sich oftmals die privilegierte Schicht vom öffentlichen Schulsystem verabschiedet. Unsere Volksschule hat also die integrative Herkulesaufgabe, die Entwicklung einer kulturellen und sozialen Identität zu unterstützen. Sie leistet damit einen bedeutsamen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft. Wenn die Volksschule nicht wäre, wo würde eine solche Integration sonst passieren? Es ist eine unglaubliche Leistung, die Lehrpersonen Tag für Tag vollbringen!

SK: Die Schülerinnen und Schüler von heute sind unsere Gesellschaft von morgen. Die haltungsprägende Wirkung der integrativen Schule erlebe ich inzwischen bei unseren Studierenden im Regelstudium. Denn immer mehr von ihnen haben in ihrer Schulzeit selbst schon integrativen Unterricht erlebt. Sie bringen daher einen natürlichen Zugang zu den Themen «Integration» und «Diversität» mit, der sich von jenem früherer Generationen deutlich unterscheidet.

MR: Die Schule hatte schon immer auch die Aufgabe der Sozialisation. Früher hiess es lapidar: «Besorgt uns Arbeitskräfte für die Wirtschaft.» Dieses Ziel hat sich verändert. Aber die Sozialisation – also den Umgang miteinander zu fördern, damit Schülerinnen und Schüler das Zusammensein friedlich gestalten können, damit sie Teil der Gesellschaft werden können – ist eine grosse Aufgabe der Schule geblieben.

SK: Wenn es uns gelingt, möglichst viele Kinder mit besonderem Förderbedarf im Bereich «Verhalten» in der Regelschule zu integrieren, wird sich das positiv auf gesellschaftliche Probleme, wie z. B. Delinquenz oder Substanzmissbrauch, auswirken. Langzeitstudien wie jene von Eckhart & Sahli Lozano zeigen, dass die separative Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen biografisch betrachtet einen Risikofaktor darstellt und integrativ beschulte Kinder später z. B. in der Berufswahl im Vorteil sind.

Wo sehen Sie die Funktion der separativen Sonderschulung in unserem Schulsystem?

MR: Grundsätzlich muss zwischen Integration und Inklusion unterschieden werden. Im Gegensatz zur Inklusion gehört zu einem integrativen Schulsystem wie unserem die Sonderschule als Möglichkeit, die gewissen Lernenden ein passendes Umfeld bietet.

BS: Unsere Institution bietet integrative und separative Sonderschulung an. Es gibt tatsächlich viele Lernende, die in einem separativen Setting sehr gut aufgehoben sind – und auch Eltern, die diese Schulung bevorzugen. Ich finde es wichtig, dass die eine Schulung nicht gegen die andere ausgespielt wird. Das Ziel der separativen Sonderschulung sollte wann immer möglich die soziale Reintegration in eine Regelklasse sein. Die Grundlagen hierfür werden in Angeboten erarbeitet, die es den betroffenen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich wieder als selbstwirksam zu erleben. Grundsätzlich ist diese Art der Förderung und Unterstützung nicht nur an Sonderschulen, sondern auch im Rahmen von niederschwelligen Förderangeboten vor Ort möglich.

AB: Mir ist es wichtig, den professionellen Umgang mit Diversität ganz generell an Regelschulen so gut wie möglich zu unterstützen. Dies bedeutet für mich gleichermassen individuelles als auch gemeinsames Lernen anzuleiten und zu begleiten. Zudem gehe ich davon aus, dass durch eine präventive, niederschwellige Einflussnahme – gerade auch im Frühbereich – nach und nach weniger Kinder und Jugendliche eine separative Sonderschulung benötigen werden. Und ja: Im Grundsatz wünsche ich mir weniger Selektion und mehr gemeinsames Lernen. Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule braucht es dazu auch Institutionen wie das Mariazell Sursee, die durch ihr Knowhow die Volksschule als Gesamtes unterstützen.

SK: Kinder kommen ja nicht schon mit auffälligem Verhalten – in der Art und Wiese, wie wir es heute hier diskutieren – zur Welt. Hinter jedem Verhalten stehen Geschichten: häufig auch negative Erfahrungen an Schulen. Denn die Schule selbst kann beispielsweise durch ungünstige Unterrichtsbedingungen oder eine negative Beziehungsgestaltung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern ein Risikofaktor für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten sein, die letztendlich mitunter zu einer Sonderschulzuweisung führen können. Ich erachte es als wichtig, dass wir die Qualität der Regelschule steigern, sodass Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten im Verhalten nicht in ihrem Selbstwert herabgesetzt werden. Und ich teile die Ansicht von Alois Buholzer, dass sich durch verstärkte präventive Massnahmen in vielen Fällen eine Sonderschulzuweisung verhindern liesse.

Wie können Schulen den erwähnten Herausforderungen begegnen? Welche Handlungsoptionen sehen Sie?

AB: Zur Bewältigung dieser Herausforderungen brauchen wir eine starke Volksschule, die chancengerecht und fair ist. Dies bedeutet, dass wir all unsere Möglichkeiten in eine tragfähige Volksschule investieren müssen. Dabei denke ich zum einen an berufsfeldbezogene Forschung und innovative Entwicklungsprojekte und zum anderen an eine gute Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. Letzten Endes ist es aber auch eine Frage der finanziellen Mittel. Wir müssen also auch in dieser Hinsicht Sorge tragen zur Schule. Ordne ich die Förderbedürfnisse der Kinder einer Pyramide zu, sehe ich einen grossen grünen Bereich für präventive Massnahmen, etwa bei leichten Auffälligkeiten, sowie einen mittleren orangen Bereich für Kinder, die von Programmen wie «Banking Time» oder anderen evidenzbasierten Programmen profitieren. Bei der Spitze der Pyramide würde ich von «Integrativer Sonderschulung» reden, denn hier braucht es gezielte sonderpädagogische Unterstützung. Wir müssen daran arbeiten, dass diese Spitze nicht immer noch grösser wird. Und da gehört für mich auch die frühe Förderung dazu: Diese eignet sich, um Ungleichheiten zu reduzieren und Benachteiligungen z. B. aufgrund bestimmter Herkünfte zu relativieren.

MR: In der Analysephase des Projekts «Verhalten» der DVS bin ich mit verschiedenen Schulen im Kanton Luzern in Kontakt gekommen, die alternative Lernorte schaffen, um Kindern verstärkt soziales und emotionales Lernen zu ermöglichen. Diese Angebote richten sich zurzeit prioritär an Kinder mit erhöhtem Unterstützungsbedarf. Aber noch produktiver oder wirkungsvoller wird es, wenn möglichst alle Kinder davon profitieren können. Auch politisch gibt es Vorstösse, die in diese Richtung gehen: Im Postulat 652 vom Jahr 2021 fordert u. a. ein ehemaliger Schulleiter eine adäquate Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten im Verhalten. Dies wurde vom Kantonsrat zustimmend zur Kenntnis genommen. Jetzt geht es darum, daraus entsprechende Massnahmen abzuleiten. Im Projekt «Verhalten» überlegen wir uns, was auf kantonaler Ebene wirksam sein könnte und wie allenfalls Rahmenbedingungen angepasst werden könnten, damit die diverser gewordene Schülerschaft insgesamt besser getragen werden kann. Und Projekte wie «Schulinseln» oder «Tankstellen» könnten hierfür wirkungsvolle Massnahmen sein.

AB: Wer etwas über den Tellerrand hinausblickt, weiss, dass durch gezielte und nachhaltig angelegte Projekte störende Situationen und Konflikte durchaus reduziert werden können und prosoziales Verhalten aufgebaut werden kann. Im Herbst haben wir das Projekt POLARIS der Schule Rothenburg besucht. Hier machte sich das Team auf den Weg und suchte gemeinsam nach Möglichkeiten, wie sie mit auffälligem Verhalten umgehen oder dessen Entstehen vorbeugen können. Es ist beeindruckend, wie deeskalierend ein solches Projekt auf eine Schule wirken kann. Ich sage nicht, dass damit alle Probleme gelöst sind – aber es ist ein Ansatzpunkt, der hilft.

BS: Das Investieren in präventive Massnahmen sehe auch ich als grosse Chance. Mit verschiedenen Massnahmen im niederschwelligen Bereich – wie z. B. Förderprogramme, alternative Lernorte, Einbezug der Erziehungsberechtigten und Coaching – kann den Herausforderungen besser begegnet werden. Viele Schulen finden kreative Lösungen, entwickeln Projekte und stärken somit alle Lernenden. Als Beispiel möchte ich die Schule Büron erwähnen, die ein Beratungs- und Unterstützungsgefäss durch interne Fachpersonen einrichtete. Beteiligte der Schule werden in der Lösungsfindung sowie der Durchführung von Massnahmen im niederschwelligen Bereich unterstützt und begleitet. Diese systemische Arbeitsweise erleichtert den Schulalltag und trägt zu einer gemeinsamen, lösungsorientierten Haltung bei. Das Ziel des Angebots ist, dass möglichst wenige Kinder sonderpädagogische Massnahmen benötigen.

MR: Für mich geht auch das längerfristige Entwicklungsprojekt «Schulen für alle» in die richtige – und wichtige – Richtung. Es hat mit entwicklungsgerechtem, individualisierendem Unterricht zu tun, der die persönliche Entwicklung der Lernenden unterstützt, aber auch der sozialen Gemeinschaft genügend Raum gewährt.

Es gibt in meinen Augen keinen besseren Prädiktor zur Vermeidung von Verhaltensauffälligkeiten als Freundschaften mit sozial kompetenten Kindern.

Alois Buholzer

Auch das Projekt «Verhalten» läuft unter dem Dach von «Schulen für alle» weiter. Marco Racheter: Erzählen Sie uns bitte mehr darüber.

MR: Wir haben im Rahmen des Projekts ein Modell entwickelt, das die zentralen Einflussfaktoren für Verhaltensauffälligkeiten zusammenfasst. Die Schulen können ihre Situation entlang dieses Modells analysieren und entscheiden, welche weiteren Angebote oder Prozesse sie generieren wollen. Manchmal gehen die Überlegungen der Schulen aber auch nicht in die für uns «richtige Richtung». Dann müssen wir als Behörde passende Leitlinien definieren, die einen produktiven Umgang im integrativen Setting ermöglichen. Aktuell generieren verschiedene Bausteingruppen Handlungsalternativen für das Feld «Herausforderndes Verhalten». Hier wird sich vieles bewegen. Die Überlegungen gehen in verschiedene Richtungen: Es gibt viele kleine Stellschrauben – nicht eine einzige grosse. Aber wenn wir mit dem Gedanken einer starken, integrativen Volksschule diese kleinen Stellschrauben drehen, dann verbessern wir die Situation Schritt für Schritt.

Was raten Sie Lehrpersonen, die das Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen möchten?

BS: Ich rate Lehrpersonen, in den Bindungs- und Beziehungsaufbau zu investieren. Neben der Umsetzung von bekannten Methoden wie «Banking Time» bietet es sich an, Zwischenzeiten, Pausen, Übergänge und offene Unterrichtssequenzen für die Beziehungsarbeit zu nutzen. Humor und Spiel sind dabei wichtige Elemente, die zum Einsatz kommen können.

SK: Und auch den Aufbau von Freundschaften zu unterstützen, ist in meinen Augen eine zentrale Massnahme, der im Unterrichtsalltag genügend Raum und Zeit eingeräumt werden sollte. Mindestens eine «echte» Freundin oder einen «echten» Freund zu haben, ist für Kinder ein Resilienzfaktor dafür, sich nicht grenzverletzend zu verhalten.

AB: Dem pflichte ich bei. Es gibt in meinen Augen keinen besseren Prädiktor zur Vermeidung von Verhaltensauffälligkeiten als Freundschaften mit sozial kompetenten Kindern. Können solche aufgebaut werden, sinkt das Risiko für auffälliges Verhalten deutlich. Die Schule kann durch Förderung von Freundschaften und durch Diskussion darüber, was angemessene Verhalten ist, auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen Einfluss nehmen.

Gibt es weitere präventive Massnahmen, die Lehrpersonen auf der Ebene des eigenen Unterrichts treffen können?

SK: Eine wirkungsvolle Massnahme sind Programme zur Förderung von sozio-emotionalen Kompetenzen, die mit Klassen oder einzelnen Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden. Bei der Wahl von Förderprogrammen rate ich Lehrpersonen, darauf zu achten, dass diese evidenzbasiert sind: Eine Studie der PH Zürich zu Massnahmen bei auffälligen Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern stellte fest, dass verbreitet Konzepte eingesetzt werden, die kaum wissenschaftlich untersucht wurden. Evidenzbasierte Förderprogramme werden deshalb auch in unserem neuen CAS «Brennpunkt Verhalten» ein zentrales Thema sein.

AB: Gerne weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass sogenannte Kontextmerkmale – also z. B. die Art und Weise der Unterrichtsgestaltung – einen wesentlichen Einfluss auf das Entstehen von auffälligem Verhalten haben. Wir wissen beispielsweise, dass die Motivationsunterstützung etwas sehr Zentrales ist: Wenn Kinder motiviert werden können, treten weniger Auffälligkeiten auf.

BS: Auch meiner Erfahrung nach beeinflussen die Unterrichtsstrukturen das Verhalten der Schülerinnen und Schüler sehr stark: Unterricht, in dem alle Kinder aktiv sind, beugt Verhaltensproblemen vor und lässt jene, die sich ein bisschen anders verhalten, nicht so stark auffallen. Sie haben da weniger Gewicht. Auch Rückzugsorte erachte ich als wichtig, damit sich jene Kinder, die dies tatsächlich brauchen, abgrenzen können.

Als Lehrperson gut beobachten und analysieren zu können, ist die Grundlage für einen professionellen Umgang mit herausforderndem Verhalten. Kinder und Jugendliche zeigen uns etwas mit ihrem Verhalten.

Brigitte Stutz

Wie sieht es auf der Ebene der Lehrpersonen aus: Welche Kompetenzen benötigen Lehrpersonen für einen professionellen Umgang mit herausfordernden Situationen?

AB: Meiner Meinung nach leisten alle 10 Professionskompetenzen des Referenzrahmens der PH Luzern einen Beitrag zu einem konstruktiven Umgang mit herausforderndem Verhalten. Besonders hervorheben möchte ich die Diagnose- und Beurteilungskompetenz: Lehrpersonen sollen genau hinschauen – und dabei nicht vorschnell bewerten und reagieren, sondern einen Schritt zurückstehen, beobachten, analysieren und versuchen, den Sinn und Zweck eines Verhaltens zu verstehen. So kann der Umgang mit Verhalten professionell gestaltet werden. Ebenfalls zentral für den Umgang mit herausforderndem Verhalten sind weiter: die Erziehungskompetenz, die Beziehungskompetenz, die Kompetenz für ein gutes Classroom Management sowie die berufsethische Kompetenz.

BS: Ich möchte Alois Buholzer beipflichten: Als Lehrperson gut beobachten und analysieren zu können, ist die Grundlage für einen professionellen Umgang mit herausforderndem Verhalten. Kinder und Jugendliche zeigen uns etwas mit ihrem Verhalten. Ich bezeichne es gerne als eine Art «Forscherarbeit», in der man sich dem annähert, was hinter einem Verhalten verborgen liegt.

SK: Ein professioneller Umgang mit herausforderndem Verhalten bedeutet auch für mich: beobachten, analysieren, gut begründet reagieren bzw. intervenieren und nicht zuletzt präventive Massnahmen planen. Dabei gilt es zu beachten, dass das, was bei einer Klasse funktioniert, nicht zwingend bei der nächsten Klasse auch funktionieren muss. Wir Lehrpersonen sind also in der Pflicht, immer wieder neu hinzuschauen und auszuwerten. Ich glaube, das ist auch das Spannende am Beruf; oder?

MR: Genau das ist vielleicht nicht nur das Spannende, sondern auch das Herausfordernde. Wenn es aber nicht eine allgemeine Lösung oder ein Rezept gibt, bedeutet das auch, dass wir unzählige Handlungsmöglichkeiten haben, die wir ausprobieren können.

AB: Ja: Rezepte gibt es keine. Demgegenüber möchte ich allerdings nochmals betonen, dass es durchaus Hinweise für erfolgreiche Lehrhandlungen gibt. Lehrpersonen sollen sich dem Schülerinnen- oder Schülerverhalten gegenüber nicht ohnmächtig fühlen. Mit Techniken wie beispielsweise «Reappraisal» (die Situation neu bewerten bzw. mit anderem Blick drauf schauen) oder «Suppression» (den Ärger einen Moment unterdrücken, damit eine Eskalation vermieden werden kann) können Lehrpersonen viel zur Veränderung einer Situation beitragen. Zu dieser Thematik forscht auch Irina Kumschick an der PH Luzern.

Zur Vertiefung: Ein Artikel aus dem Journal für LehrerInnenbildung.

Die PH Luzern unterstützt Lehrpersonen auf verschiedenen Ebenen beim Erwerb der angesprochenen Kompetenzen … Was finden Sie dabei am erwähnenswertesten?

SK: Lehrpersonen, die sich in diesem Themenbereich weiterentwickeln oder spezialisieren möchten, kann ich unseren neuen CAS «Brennpunkt Verhalten» wärmstens empfehlen. Im Gegensatz zu kürzeren Weiterbildungen in dieser Thematik bietet unser einjähriger Studiengang die Möglichkeit, nicht nur umfassende neue Handlungskompetenzen zu erwerben, sondern diese auch nachhaltig in der eigenen Berufspraxis zu verankern – und damit langfristige Veränderungsprozesse zu initiieren.

AB: Die Sensibilisierung für Diversität und der Kompetenzaufbau für den Umgang mit Verschiedenheit beginnt bereits im ersten Semester der Studiengänge Kindergarten/Unterstufe, Primarstufe und Sekundarstufe I. Und in den nachfolgenden Semestern vertiefen wir diese Themen weiter. 2023 haben wir eine Zusammenstellung dazu erstellt, in welchen Modulen das Thema «Herausforderndes Verhalten» aufgegriffen wird: Hier kommt bereits einiges zusammen. Die Zeit der Ausbildung ist allerdings begrenzt. Und eine Ausbildung kann auch nicht alles leisten. Es braucht also auch eine gute Weiterbildung, die diese Themen vertieft und erweitert. Jedoch zeigen sich nach wie vor auch Herausforderungen. In einer Evaluation im Kanton Uri haben wir beispielsweise festgestellt, dass sich in den Schulen im Umgang mit auffälligem Verhalten fast niemand richtig zuständig und kompetent fühlt. Selbst die Schulischen Heilpädagoginnen und -pädagogen, die im Masterstudium zahlreiche Module zu diesem Thema besucht haben, fühlen sich nicht ausreichend kompetent. Daraus lässt sich der Rückschluss ziehen, dass es wichtig ist, an den Schulen diesbezüglich mehr Fachwissen und Knowhow aufzubauen. Ich kann mir gut vorstellen, dass unser neuer CAS dabei helfen wird, mehr Expertise an die Schulen zu bringen.

SK: Es ist uns auch ein Anliegen, alle unsere Studiengänge an die sich verändernden Bedürfnisse unserer Studierenden anzupassen. Dazu holen wir regelmässig Rückmeldungen ein. So haben wir beispielsweise festgestellt, dass sich viele Absolventinnen und Absolventen rückblickend mehr Ausbildung im Bereich «herausfordernde Elternarbeit» gewünscht hätten. Im Studiengang Sekundarstufe I konnten wir diese Inhalte bereits ausbauen. Ein weiteres Optimierungspotenzial sehe ich im Bereich der «Förderung sozio-emotionaler Kompetenzen»: Es wäre beispielsweise sinnvoll, wenn wir bereits im Regelstudium eine Auswahl evidenzbasierter Förderprogramme vorstellen könnten.

Ein weiteres Optimierungspotenzial sehe ich im Bereich der «Förderung sozio-emotionaler Kompetenzen»: Es wäre sinnvoll, wenn wir bereits im Regelstudium eine Auswahl evidenzbasierter Förderprogramme vorstellen könnten.

Stefan Küng

Welche Kompetenzen benötigen Schulleitende, um eine Schule mit professionellem Umgang mit herausforderndem Verhalten zu führen?  

MR: Eine Schulleitung ist in erster Linie das Führungsgremium von Lehrpersonen, die ihrerseits die bereits geschilderten Kompetenzen benötigen. Sie sollte sich also vertieft mit den Ressourcen, Kenntnissen und Fähigkeiten ihres Teams auseinandersetzen und Teamdynamiken im Blick behalten. Hierfür brauchen Schulleitende fundierte Kompetenzen in der Personalführung. Weiter sollte die Schulleitung das System vor Ort analysieren und sich überlegen, welche Strukturen, Organisationsformen und Prozesse so gestaltet werden können, dass die Institution tragfähig ist.

Marco Racheter: Welche Unterstützungsmöglichkeiten bietet der Kanton Luzern Schulleitungen und ihren Teams bei der Begleitung von Schüler*innen mit Verhaltensschwierigkeiten ohne Sonderschulstatus?

MR: Das Konstrukt der integrativen Sonderschulung hat sich in den letzten Jahren verändert. Früher erhielten Kinder und Jugendliche mit einem Förderbedarf, der eine gewisse Schwelle nicht erreichte, im Kanton Luzern keine zusätzliche Unterstützung. Heute gibt es abgestufte Beratungs- und Unterstützungsangebote. Auch sehr wirksam zeigt sich die durch die Schuldienste angebotene Psychomotoriktherapie. Aktuell besuchen bei uns 80 Prozent der Kinder die psychomotorischen Angebote nicht aufgrund motorischer, sondern aufgrund sozio-emotionaler Schwierigkeiten. Weiter möchte ich die Schulberatung an der Dienststelle Volksschulbildung sowie die sogenannten SOS-Massnahmen erwähnen. Wenn sich eine Situation eskalierend zeigt, haben Schulleitungen die Möglichkeit, zusätzliche Ressourcen an ihre Schule zu holen.

Sie sind als Expertin und Experten für das Thema «Verhalten» unterwegs. Wir gehen davon aus, dass sich jeder Mensch irgendwann mal daneben verhält. Wo ist das bei Ihnen der Fall?

AB: Ich bin froh, wenn Sie mich noch nie beim Velofahren beobachtet haben – insbesondere beim ungeduldigen Warten vor dem Rotlicht bei der Brücke am Nölliturm.

BS: Ich werde verhaltensauffällig, wenn andere besser wissen wollen, was für mich gut ist.

SK: Erwähnenswert ist an dieser Stelle wohl die Hausdisco meiner Familie. Da tanzen wir gemeinsam fröhlich um den Tisch und verhandeln intensiv, welchen Song wir als Nächstes hören.

MR: Mein Bewegungsbedürfnis kollidiert immer mal wieder mit den Anforderungen, die in meinem Alltag an mich gestellt werden...

BS: … so wie es vielen Kindern in der Schule geht...


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Gabriela Luginbühl
MA PHLU in Special Needs Education
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